Liberty News - Hat sich das Dreisäulensystem bewährt?

Die Rentenleistungen geraten zunehmend unter Druck, denn die Bevölkerung wird immer älter. Aus sozialpolitischer Sicht gibt es drei Stellschrauben: eine Renten-Kürzung, eine Rentenalter-Erhöhung oder mehr Beiträge. Was macht Sinn?

Zum 50-Jahr-Jubiläum des Dreisäulenkonzepts hat das Magazin «Soziale Sicherheit (CHSS)» Gewerkschaften und Arbeitgeber zu einem Streitgespräch eingeladen. Im Gespräch über die Altersvorsorge geht es um die Finanzierung der ersten Säule: Während Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes, die AHV ausbauen will, fordert Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands «unkonventionelle» Lösungen wie eine Kopplung des Rentenalters an die Lebenserwartung.

Erste und zweite Säule zusammen schützen vor Altersarmut

Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, propagiert die Risikoverteilung auf drei Säulen des Schweizer Vorsorgesystems: Die erste Säule reagiere stark auf demografische Veränderungen, die zweite auf die Entwicklung der Finanzerträge, und die dritte Säule lasse individuellen Spielraum, wobei er auch alle privaten Ersparnisse dazu zählt. Wer über eine erste und eine zweite Säule verfüge, weise zudem ein geringeres Armutsrisiko auf, als jemand, der auf die AHV allein angewiesen sei. Pierre-Yves Maillard, Präsident des Gewerkschaftsbundes, lobt die Stabilität der ersten Säule sowie die Möglichkeit der zweiten Säule, das Kapital zu beziehen. In den vergangenen zehn Jahren sei das System allerdings ins Wanken geraten: Tiefere Umwandlungssätze in der beruflichen Vorsorge würden das Rentenniveau senken. Er weist zudem darauf hin, dass nur eine Minderheit in den Genuss einer dritten Säule komme.

Die Leistungen geraten zunehmend unter Druck

Tatsächlich deckt die AHV immer weniger des letzten Lohns ab, und in der beruflichen Vorsorge sinken die Umwandlungssätze. Vogt bestätigt diesen Abbau – schliesslich werde die Bevölkerung immer älter. Weitere Reformen seien deshalb unausweichlich. Vogt sieht aus sozialpolitischer Sicht drei Stellschrauben: Man könne die Renten kürzen, das Rentenalter erhöhen, oder mehr Beiträge verlangen. Eine Rentenkürzung kommt für ihn nicht in Frage. Es verblieben also noch die Erhöhung des Rentenalters und zusätzliche Beiträge. Eine Kombination der beiden Massnahmen scheint ihm am sinnvollsten. Für Maillard ist die Erhöhung des Rentenalters keine Option. Für die Arbeitnehmenden seien zusätzliche Lohnbeiträge am wenigsten schmerzhaft: Im Mai 2019 hätten zwei Drittel der Stimmbevölkerung Ja gesagt zu einer Erhöhung der AHV-Lohnprozente um 0,3 Punkte (Vorlage Steuerreform und AHV-Finanzierung STAF). Dies zeige die breite Akzeptanz dieser Massnahme. Die Sozialpartner hätten die AHV-Lohnprozente während Jahrzehnten schrittweise angehoben, um die AHV ausreichend zu finanzieren. Warum wolle der Arbeitgeberverband diese Erfolgsgeschichte plötzlich beenden?

Schweiz steht mit ihren hohen Löhnen bereits jetzt unter Druck

Vogt unterstreicht, dass sich der SAV gegen reine Finanzierungsvorlagen bei Reformen wehre. Er kritisiert zudem, dass die Gewerkschaften in der Schweiz den Faktor Arbeit verteuern wollten. Die Schweiz stehe mit ihren hohen Löhnen im internationalen Vergleich bereits jetzt schon enorm unter Druck. Er führt die tiefe Arbeitslosigkeit auf Nachholeffekte wegen der Covid-19-Pandemie sowie den Fachkräftemangel zurück: Immer mehr Menschen würden Teilzeit arbeiten, während die Babyboomer in den Ruhestand gingen. Wenn es so weiter gehe, habe die Schweiz Probleme, ihren Wohlstand zu halten. Viele Schweizer Firmen würden Arbeitsplätze zwischenzeitlich vermehrt im Ausland aufbauen. Gemäss Maillard hat eine Erhöhung der AHV-Beiträge um 0,3 Lohnprozente jedoch keinen Effekt auf den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote in der Schweiz sei auf einem historischen Tief.

Ist die zweite Säule überfinanziert?

Maillard sieht in Anbetracht schmerzender Lohnprozente am ehesten Sparpotenzial bei der zweiten Säule. Er behauptet, dass mit den Löhnen jedes Jahr 25 Milliarden Franken mehr in die berufliche Vorsorge einbezahlt würde, als in Form von Renten und Kapitalbezügen bezogen werde. Nach fast 40 Jahren zweite Säule sei der Zeitpunkt gekommen, diesen Mechanismus kritisch zu hinterfragen. Es scheint ihm, dass die zweite Säule überfinanziert sei. Die Pensionskassen würden Vermögen von 1 Billion Franken verwalten. Dabei müssten sie die Gelder nach strengen Vorgaben anlegen, das den Handlungsspielraum der Sozialpartner schwäche. Man habe ein System gebaut, das Vorsorgeexperten zu viel Macht gebe. Das Verhältnis zwischen den Lohnbeiträgen und den Leistungen scheine nicht mehr zu stimmen. Es brauche eine grundsätzliche Analyse, die auslote, ob mehr Risiken möglich seien. Vogt räumt zudem ein, dass wer Teilzeit arbeite, heute benachteiligt sei – darunter befänden sich viele Frauen. Die Kritik an der zweiten Säule könne er aber nicht ganz nachvollziehen: Dank der strengen Regeln habe es seit 1984 keine grösseren Konkurse von Pensionskassen gegeben. Die Gewerkschaften seien ausserdem paritätisch in Stiftungsräten von Pensionskassen vertreten und würden die Anlageentscheide mittragen.

Arbeitgeber sollten flexible Arbeitsmodelle anbieten

Auf die Frage nach einer Rentenalter-Erhöhung, wie es die Jungfreisinnigen mit einer Volksinitiative erreichen wollten, meint Vogt, dass die Initiative eine gute Gelegenheit sei, eine Erhöhung des Rentenalters sachlich und ergebnisoffen zu diskutieren. Denn die Alterung der Bevölkerung sei eine Tatsache. Doch während Maillard den zunehmenden Druck auf die Arbeitnehmenden anspricht, führt Vogt jene älteren Erwerbstätigen an, die sich mit 65 Jahren noch fit fühlten, und – mit einem kleineren Pensum – weiterarbeiten wollten. Die Arbeitgeber seien deshalb gefragt, flexible Arbeitsmodelle anzubieten, damit man zum Beispiel ab 58 Jahren stufenweise sein Pensum reduzieren und dafür über das Referenzrentenalter hinaus arbeiten könne. Man müsse sich lösen von der Idee, dass mit 65 Jahren Schluss mit Arbeiten sei. Maillard wirft ein, dass man dazu das Rentenalter nicht erhöhen müsse: länger arbeiten könne man schon heute. Wer länger arbeiten wollte, solle dies tun. Man dürfe aber nicht diejenigen bestrafen, die zum ordentlichen Zeitpunkt in Pension gehen wollten. Auch fordert er Ehrlichkeit: Den Takt auf dem Arbeitsmarkt würden die Firmen vorgeben. Gerade über 60-Jährige seien oft am kürzeren Hebel.

Man muss über unkonventionelle Lösungen nachdenken

Das sieht Vogt anders: Er verweist insbesondere auf den Fachkräftemangel. Maillard bekräftigt, dass Menschen, wenn sie nicht krank oder ausgelaugt seien, gerne arbeiten würden, auch im Alter. Deshalb müssten die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Auch könnten sich nur Gutverdienende eine Frühpensionierung leisten. Die andere Hälfte der Arbeitnehmenden habe keine Wahl, und müsse bis 65 Jahre arbeiten, weil sie auf die AHV angewiesen sei. Darunter fänden sich viele Frauen. Eine Erhöhung des Rentenalters komme für die Gewerkschaften aber nicht in Frage und werde es an der Urne schwer haben. Vogt schlägt vor, beispielsweise das Rentenalter an die Anzahl Jahre zu koppeln, die jemand gearbeitet habe. Oder das Rentenalter an die Lebenserwartung zu knüpfen. Das jetzige System sei jedenfalls viel zu starr. Man müsse über unkonventionelle Lösungen nachdenken.